Seit zwei Jahren wütet eine Pandemie, die weltweit bereits mehrere Millionen Todesopfer gefordert hat. Die Folgen dieser Pandemie und der kaum funktionierenden Strategie der österreichischen Regierung dagegen kriegen wir alle zu spüren und die Trennung vom öffentlichen und privaten Raum wird dadurch noch auffälliger: Während es für wohlhabende Menschen mit Garten am Land vielleicht nicht so tragisch ist, zuhause bleiben zu müssen wenn sämtliche Freizeitangebote geschlossen sind, werden viele Leute in engen Wohnungen eingesperrt, wo sie ausharren sollen, bis sie dann arbeiten gehen müssen – so wurde von uns allen erwartet, unser Privatleben zur Verhinderung der Pandemie auf Eis zu legen, während der Zwang zur Lohnarbeit weiter besteht. Der öffentliche, konsumfreie Raum wurde während großen Teilen der Pandemie noch mehr als davor zu einem Raum der Repression. Statt sinnvoller Massnahmen, die tatsächlich etwas zur Verhinderung der Pandemie beitragen, wurden Menschen teilweise haltlose Maßnahmenverstöße vorgeworfen, als sie sie auf einer Parkbank gesessen sind oder zu zweit draußen ein Bier getrunken haben. In letzter Zeit wurde dann, inkonsequent wie eh und je, plötzlich auf eine Durchseuchungsstrategie gesetzt – statt sinnvoller Schutzmassnahmen wurden wir alle dem Virus ausgesetzt, frei nach dem Motto „Hauptsache der Wirtschaft geht es gut“. Wir haben genug davon: Der öffentliche Raum gehört uns allen – es kann nicht sein, dass wir unsere Privatleben komplett einschränken müssen, während für „die Wirtschaft“ alles weiter laufen muss. Die Massnahmen und auch Nicht-Massnahmen der Regierung haben uns einmal mehr vor Augen geführt, dass die herrschenden Verhältnisse sich verändern müssen und wir alle dazu beitragen müssen. Deshalb haben wir heute ein Haus in der Mariannengasse 16-20,1090 Wien besetzt – wir nehmen uns den Raum selbst!
Es ist kein Zufall, dass wir uns für dieses Haus entschieden haben: Anfang des 20. Jahrhunderts befand sich unter anderem in diesem Gebäude das Sanatorium Dr. Anton Loew, eine angesehene und bekannte Klinik. Im Jahr 1938 musste das Sanatorium nach jahrelangen finanziellen Schwierigkeiten endgültig schließen. Bald darauf war die damalige Sanatoriumsleiterin Gertrud Loew gezwungen über Belgien in die USA zu flüchten, um der Verfolgung der Nazis aufgrund ihrer jüdischen Herkunft zu entgehen. Im Zuge von Arisierungen wurde das Gebäude der Besitzerin, die bereits flüchten mussten, geraubt. Das Gebäude wurde anschließend vom NS-Reichsluftfahrtministerium genutzt. Ab 1960 wurde das Gebäude schließlich von der ÖBB übernommen; seit einigen Jahren steht es nun leer, befindet sich aber weiterhin im Besitz der ÖBB. Bereits 2001 hätte das Haus wieder an die ursprüngliche Besitzerin Gertrude Loew zurückgegeben werden müssen, doch das ist nie passiert. Österreich weigert sich erneut seine Geschichte aufzuarbeiten, den immer noch vorhandenen Antisemitimus anzuerkennen und den Opfer zu geben was ihnen zusteht.
Für uns liegt die symbolische Wichtigkeit zudem in der Klinik-Vergangenheit, denn durch die Corona-Krise wurde uns auch in der Gegewart vor Augen geführt in welcher prekären Lage sich Pflege und Krankenhäuser befinden. Das Gesundheitssystem darf nicht weiter Profitinteressen zum Opfer fallen, sondern muss sich nach den Bedürfnissen des Personals und der Patient*innen richten.
Als Zusammenschluss verschiedener linksradikaler Zusammenhänge, Gruppen und Einzelpersonen ist für uns klar, dass dass der Zustand der Welt gelinde gesagt schon vorher absolut katastrophal war. Die Pandemie trägt lediglich zu Zuspitzung und zur vermehrten Sichtbarkeit der bestehende Problemen bei, die dem kapitalistischen, autoritären Staat ohnehin schon inne liegen. Ohne Frage gibt es zahlreiche Gründe, wieso wir dieses Haus besetzt haben, wieso wir unzufrieden mit dieser Welt sind – einige wollen wir euch nachfolgend aber näher erläutern.
In den vergangenen zwei Corona-Jahren wurden unsere Privatleben ständig eingeschränkt, während die Profitmaximierung und Ausbeutung der Arbeitskraft nahezu unbeschränkt weiterlaufen konnte und musste. Doch nicht nur das: Auch gesetzte Maßnahmen waren stets so gewählt, dass sie ärmere Leute verhältnismäßig viel mehr eingeschränkt haben. Während sich Treffen unter Konsumzwang scheinbar als komplett sicher eingestuft wird und wurde, bekamen Menschen Strafen, wenn sie dasselbe an konsumzwangfreien Plätzen machen. So wurden beispielweise obdachlose Menschen unter dem Vorwand der Pandemiebekämpfung verstärkt aus dem öffentlichen Raum vertrieben und durch absurde nächtliche Ausgangsbeschränkungen, anstelle sinnvoller Maßnahmen, schikaniert.
Derweil steigen Mieten und Heizkosten immer mehr an und werden für viele kaum nocht leistbar. Statt Wohnen als Grundrecht zu betrachten, behandelt der Kapitalismus Wohnraum als Ware, Häuser stehen leer, während Menschen auf der Straße leben müssen – Wohnraum wird als Spekulationsobjekt und Anlagemöglichkeit angesehen und so wird eine künstliche Knappheit erzeugt, die sich spürbar auf den Alltag auswirkt. So werden diejenigen, die Wohnungen besitzen und sich durch die Mieten anderer was dazu verdienen oder sogar nur davon leben, immer reicher. Für viele ärmere Menschen steigt die Angst, ihre Wohnungen zu verlieren und delogiert zu werden. Öffentlicher Raum war für viele Menschen während der Lockdowns die einzige Möglichkeit ihrer beengten Wohnsituation zu entkommen. Zeitgleich erhöhte sich die Gefahr, dem repressiven staatlichen Verhalten durch Racial und Social Profiling ausgeliefert zu sein.
Für uns ist klar, dass der öffentliche Raum allen gehören muss – alle Menschen haben Anrecht auf Freiräume. Wir wissen aber auch, dass in Wien ein Mangel an konsum- und repressionsfreien, linken Räumen besteht. Mit unserer Besetzung möchten wir uns mit euch gemeinsam Raum nehmen und einen neuen, linksradikalen, selbstverwalteten Ort schaffen. Denn diese Stadt gehört uns allen!
Eine Stadt, die uns allen gehört, muss aber nicht nur für alle Raum haben, sondern auch allen eine gute Gesundheitsversorgung garantieren. In der kapitalistischen Realität, in der wir leben, orientiert sich Gesundheitversorgung aber in erster Linie an den Bedürfnissen des Marktes; so müssen Kliniken gewinnbringend sein. So werden Löhne von Pflegepersonal gekürzt, während Spital-Manager*innen immer absurdere Einkommen beziehen.
Es ist kein Zufall, dass gerade Pflegeberufe, die weiblich und migrantisch geprägt sind, auch schlecht bezahlt werden und dass deren Forderungen nach besseren Arbeitsbedingungen selbst in einer Pandemie ignoriert werden. Arbeit, die in der Gesellschaft als weiblich und/oder migrantisch angesehen wird, wird abgewertet und als weniger wichtig betrachtet. So wird auch gerade unbezahlte, „private“ Sorgearbeit wie beispielsweise die Pflege von Verwandten von großen Teilen der Bevölkerung nicht als „richtige“ Arbeit betrachtet – diese wird mit dem Bedürfnis sich zu Kümmern begründet, statt die dadurch entstehende Belastung zu benennen und etwas zur Entlastung beizutragen.
Für viele Menschen entstehen durch die Beschränkung auf den privaten Raum zusätzliche Gefahren. Die meiste Gewalt gegen FLINTA*s (Frauen, Lesben, nicht binäre, trans und agender Personen) passiert im privaten Raum. Mindestens 33 FLINTA*s wurden im Jahr 2021 ermordet, fast alle davon von ihren (Ex-)Partnern oder Männern aus ihrem privaten Umfeld. Dazu kommen zahlreiche Mordversuche und andere Formen psychischer und physischer Gewalt.
Auch die Gewalt gegen Kinder und Jugendliche, die durch die Schließung von Schulen und Betreuungsstätten zu Hause bleiben mussten, hat während der Pandemie zugenommen. So wurden die engen Raumverhältnisse, aus denen kaum ein Ausweg besteht, zum Albtraum ohne Ausweg (…, zum Albtraum ohne Fluchtmöglichkeit) V. . Auch für Kinder und Jugendliche, die vielleicht nicht direkt von Gewalt betroffen sind,wirkt sich die Pandemie auf die psychische Gesundheit aus: Gemäss aktueller Studien bräuchten mindestens 60´000 Minderjährige in Österreich Psychotherapie – diese bekommen sie aber nicht, weil es schon immer in Österreich einen Mangel an Kassenplätzen gab, der sich durch die Pandemie weiter verstärkte.
Mit unserer Besetzung wollen wir uns Raum nehmen und einen Ort für Utopien und gemeinsame Strategien zugunsten einer solidarischen Gesellschaft schaffen. Wir wollen eine Welt, in der alle Menschen frei leben können. Eine Welt, in der unsere Leben nicht von Lohnarbeit und zu wenig Geld am Ende des Monats bestimmt werden. Eine Welt, wo keine Mietpreise mehr bestimmen, ob wir genug zu Essen kaufen können. Wir wissen, dass all die Probleme, die wir im Text geschildert haben, schon vor Covid-19 existiert haben und durch die Pandemie nur noch sichtbarer geworden sind. Die letzten zwei Jahre haben uns gezeigt, dass es mehr als überfällig ist, dass wir zusammen gegen dieses System kämpfen und solidarisch durch die Krise*n gehen! Wir können und wollen den autoritären Staat und den Kapitalismus nicht als Ende der Geschichte akzeptieren!